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Marcel Reif im Interview: „Die Kraft dieser drei Wörter habe ich unterschätzt“

Von: Interview: Sebastian Heise

Im Interview mit dem VdK spricht Sportjournalist und -Kommentator Marcel Reif über die Reaktionen auf seine sehr persönliche Rede im Bundestag im Januar 2024 sowie negative und positive Entwicklungen in Gesellschaft und Politik. 

Marcel Reif steht bei seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag in Deutschen Bundestag am Rednerpult.
Marcel Reif bei seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag in Deutschen Bundestag. © Deutscher Bundestag / Janine Schmitz / photothek

„Sei ein Mensch!“: Diesen Satz seines Vaters zitierte Marcel Reif in einer sehr persönlichen Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag. Damit hat er viele positive Reaktionen ausgelöst. Der 74-Jährige erzählte von seinem Vater, der unter der schrecklichen Nazi-Herrschaft gelitten und mit viel Glück überlebt, aber nie davon erzählt hat. Die VdK-Zeitung sprach mit Reif über die Rede, und dass jedes Fußballspiel besonders sein kann.

„Nie wieder!“ ist nicht nur ein Appell. Es wurden Gesetze gemacht, Grenzen gesteckt. Diese wurden schleichend gebrochen, und das macht unsere Gesellschaft kaputt.

Marcel Reif, Schweizer Sportjournalist und -kommentator

VdK: Der von Ihnen zitierte Satz „Sei ein Mensch!“ ist in aller Munde. Er ist auf Plakaten und Aufklebern einer Kampagne der Stadt München für Toleranz und Menschlichkeit zu sehen. Was empfinden Sie dabei?

Marcel Reif: Wenn Sie damit meinen, ob mich das stolz macht. Nein, ich habe praktisch nichts damit zu tun. Ich freue mich, dass dieser Satz, den ich nur weitergegeben habe, solche Wirkungsmacht entfaltet, und dass offenbar viele Menschen, den Satz so verstehen, wie ich ihn verstanden habe. Dieser so banale Satz mit drei Wörtern hat so eine Kraft, die ich unterschätzt habe.

VdK: Wie groß war das Echo auf Ihre Rede im Bundestag?

Marcel Reif: Ich weiß nicht, wie viele Menschen mich angesprochen haben. Ich hätte das nie für möglich gehalten.

VdK: Warum sind Kampagnen für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Toleranz so wichtig?

Marcel Reif: Weil es um die Sache selbst geht. Es geht darum, dass die Menschen sich bewusst werden, welche Grundlagen des Zusammenlebens in Gefahr sind, und in welche Richtung die Gesellschaft abzudriften droht.

VdK: Wie bedroht ist unsere Verfassung, und was macht Ihnen Hoffnung?

Marcel Reif: Dass wir heute, im 21. Jahrhundert, das Wort „Antisemitismus“ wieder in den Mund nehmen, hat etwas unfassbar Großes, zu Großes. Das geht nicht. Den Einzelfall kann man dingfest machen und bekehren oder aus dem Verkehr ziehen. Aber nach dem Hamas-Massaker wurden auf deutschen Plätzen Aussagen gemacht, die entsetzlich sind. Das kann und darf nicht sein – und das in Deutschland. Aufgrund unserer Geschichte müssen wir noch wachsamer sein als andere. Wenn eine Staatsmacht nicht eingreift, bei Auswüchsen, die auch Straftatbestände sind, dann ist meine Bestürzung größer als meine Hoffnung.

VdK: Sie sehen also eine bedrohliche Entwicklung?

Marcel Reif: Wenn sich meine Cousine, die in Tel Aviv lebt, in einem Telefongespräch mehr Sorgen um mich macht als um sich selbst – und ich lebe in Deutschland – dann sind die Dinge von den Füßen auf den Kopf gestellt. Dann stimmt etwas nicht. Spätestens an der Stelle bin ich hellwach.

VdK: Was können die politisch Verantwortlichen tun, um unsere freiheitliche demokratische Grundordnung besser zu schützen, in der niemand ausgegrenzt werden darf?

Marcel Reif: Schön, dass Sie diesen Nachsatz noch gemacht haben. Der Satz von der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ steht an jeder Ecke. Da kann jeder Hund dran pinkeln. Aber Sie machen ja den Zusatz, was das heißt: dass niemand ausgegrenzt wird, egal ob jemand grün, schwarz-weiß kariert oder himmelblau, Christ, Muslim oder Jude ist. Das steht in unserer Verfassung ganz vorne. Also was müssen Politiker tun? Ihren Job! Sie legen ihren Amtseid ab und schwören, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Und wie kann man dem Staat mehr schaden, als gegen die Verfassung zu verstoßen? Um dies zu stoppen, gibt es eine Staatsmacht. Menschen dürfen demonstrieren. Aber wenn sie dabei gegen die Verfassung verstoßen, muss die Polizei einschreiten. Und es kann nicht sein, dass sich jemand, der sich nicht an die Gesetze hält, auf die freie Meinungsäußerung berufen kann. Da braucht es Klarheit, Eindeutigkeit und auch blitzartig Umsetzung.

VdK: Sie sprechen von einer stärkeren Durchsetzung der Gesetze?

Marcel Reif: Schauen Sie: Wenn Sie sich im Flughafen, wo Rauchverbot ist, eine Zigarette anzünden, ist gefühlt sofort die Kavallerie da. Das ist in Ordnung, dass dieses Verbot rigide durchgesetzt wird. Aber es kann nicht sein, dass es Bereiche gibt, die zu rechtsfreien Räumen werden. Es ist doch Wahnsinn, wenn Antisemitismus bei uns einen Platz hat und geschützt wird durch freie Meinungsäußerung. Da geht das System in die Irre. Und das ist genauso bei Islamophobie. Diese darf es auch nicht geben. „Nie wieder!“ ist nicht nur ein Appell. Es wurden Gesetze gemacht, Grenzen gesteckt. Diese wurden schleichend gebrochen, und das macht unsere Gesellschaft kaputt.

VdK: Was kann jeder Einzelne für eine menschlichere Gesellschaft tun?

Marcel Reif: Gerne kann sich jeder diesen Satz „Sei ein Mensch!“ zu eigen machen. Ich habe da kein Copyright drauf. Auch nicht mein Vater. Dieser Satz ist eine jiddische Redewendung: „Sei a Mensch!“ Er ist eine Richtschnur, die uns bei jeder kleinsten Auseinandersetzung helfen kann. Ich habe selbst vor Kurzem in einer Alltagssituation daran gedacht. Es muss nicht immer das große Ganze sein. Im Kleinen gilt auch: Wie geht man miteinander um? Und wird in Gesprächen etwas Unsägliches gesagt, dann sollte man die Person freundlich darauf hinweisen, dass das nicht geht.

Marcel Reif interviewt Fußballtrainer Thomas Tuchel im Stadion.
Marcel Reif (links) interviewt Thomas Tuchel, damals noch Trainer von Borussia Dortmund, im Hamburger Volksparkstadion. © IMAGO / Thomas Bielefeld

VdK: Als langjähriger Sportkommentator haben Sie ja oft scharf kritisiert …

Marcel Reif: Es war mein Job als Kommentator, meine Meinung zu sagen und beispielsweise die Leistung von Fußballern zu kritisieren. Den Respekt vor den Menschen aber durfte ich nie verlieren. Darauf habe ich immer geachtet. Ansonsten hätte ich mich schuldig gemacht. Ich habe den Eindruck, dass meine jüngeren Nachfolger heutzutage nicht mehr so offen kritisieren, möglicherweise aus Angst vor einem Shitstorm in Social Media. Das ist schade.

VdK: Welche positiven Entwicklungen sehen Sie in der Gesellschaft?

Marcel Reif: Positiv ist zum Beispiel, dass ich wegen „Sei ein Mensch!“ so oft angesprochen werde, und dass die Worte genau dort landen, wo sie landen sollten. Menschen sagen: „Es war eine bewegende Rede!“ Das heißt, sie wurden bewegt. Die Reaktionen kommen von überall, sowohl von Handwerkern als auch von Parteivorsitzenden, aus allen Teilen der Gesellschaft. Wenn man die multipliziert, und es nicht nur im Emotionalen bleibt, sondern weitergetragen wird – warum soll ich dann die Hoffnung aufgeben?

VdK: Wie wichtig sind denn Demonstrationen für Toleranz und Menschlichkeit?

Marcel Reif: Die sind sehr wichtig. Allerdings darf man nicht die Menschen abzählen nach dem Motto: Wie viele Gute waren es denn heute, und wie viele Schlechte waren es gestern? Auch wenn es bei den Rechtsextremen viel weniger sind, ist das Problem nicht beseitigt. „Wir haben 2:1 gewonnen!“, das gilt im Sport, aber leider nicht hier. Dass hunderttausende Menschen auf die Straße gehen und dies gesehen und gehört wird, ist natürlich zu begrüßen und zu unterstützen. Das habe ich auch in meiner Rede betont.

VdK: Haben Sie beim Verfassen Ihrer Rede mit so vielen emotionalen Reaktionen gerechnet? Einige Zuhörerinnen und Zuhörer im Bundestag haben geweint.

Marcel Reif: Nein, damit habe ich nicht gerechnet. Diese Reaktionen haben mich – im positiven Sinne – schockiert. Mir war es nur wichtig, dass ich diese Rede ohne Tränen halte. Ich wollte sie in Fassung vortragen. Meine Betroffenheit war nicht das Thema. Es sollte darüber hinausgehen.

VdK: Sie haben es ja geschafft, die Rede ohne Tränen zu halten. Haben Sie das geübt?

Marcel Reif: An dem Morgen vor der Rede habe ich meiner Frau im Hotelzimmer gesagt: „Könntest du mir bitte zuhören? Ich würde dir gerne zwei Stellen aus meiner Rede vortragen. Die möchte ich ohne Tränen überwinden.“ Denn bei diesen Punkten reagiere ich normalerweise immer – wie auf Knopfdruck. Dann habe ich es versucht, und die Hoffnung war da. Dass es am Ende geklappt hat, glauben Sie mir, da war ich sehr froh. Aber die ganze Situation im Bundestag war für mich surreal: Beifall, stehende Ovationen, und dann reicht mir der Bundeskanzler die Hand. „Kann mir bitte jemand sagen, was hier gerade passiert?“, habe ich mich gefragt. Das war mein Auftritt. Und wie es war, war es gut so. Wenn etwas unerheblich wäre, dann bliebe es unerheblich. Dies war es aber nicht. Ich will damit nicht sagen: „Da habe ich jetzt was Tolles geschafft!“ Nein, nicht ich. Ich habe einfach nur erzählt. Und das, was daraus folgte, ist großartig, grandios. Mein ältester Sohn hat sich danach zwar Sorgen um mich gemacht. Aber es ist nichts passiert. Es hat mich auch niemand negativ angesprochen.

VdK: Zum Schluss noch zu Ihrem langjährigen Metier: Hat Fußball eine Integrationskraft?

Marcel Reif: Als ich in der Nachkriegszeit aus Israel nach Kaiserslautern kam, konnte ich die Sprache nicht, aber ich konnte mit den Füßen sprechen. Auf dem Fußballplatz ist es egal, ob man schwarz, weiß, kariert oder sonst wie ist. Wenn man den Ball von A nach B bewegen kann, freuen sich die anderen. Das hat mir geholfen. Der Fußball wird häufig überfrachtet. Doch diese positive Eigenschaft hat er. Verschiedene Menschen kommen zusammen und stellen fest: „Wir sind auf demselben Platz, wir haben eine gemeinsame Idee.“ Da schaden oder nützen irgendwelche Hautpigmente, die einem Gott mitgegeben hat, gar nichts, sondern es zählen andere Werte, offensichtlich die richtigen. Und bei einer Europameisterschaft wie jetzt in Deutschland kommen Menschen von verschiedenen Ländern zusammen, und es gab viele wunderbare Szenen.

VdK: Sie haben zahlreiche Fußballspiele kommentiert. Welche zwei, drei Momente Ihrer Kommentatoren-Karriere fallen Ihnen als Erstes ein?

Marcel Reif: Eine solche Rangfolge habe ich nie gemacht. Tausende Momente fallen mir ein, und jeder davon ist besonders. Auch an ein Spiel wie Darmstadt gegen Hoffenheim habe ich Erinnerungen. Sonst hätte ich gesagt: „Ein Champions-League-Finale ist das Mindeste. Der Rest ist unter meiner Würde.“ Das ist nicht mein Ansatz. Ich habe am Ende meiner Reporterkarriere die Schweizer Liga kommentiert, die sicher nicht die Qualität der deutschen Bundesliga hat. Wenn ich gesagt hätte „Warum spielt hier nicht Bayern München gegen Bayer Leverkusen?“, wäre ich der Sache nicht gerecht geworden und hätte auch nicht den geringsten Spaß entwickeln können. Ich habe immer gesagt: „Das beste Spiel, das ich kommentiere, ist das nächste!“

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