Kulturelle und soziale Teilhabe für alle
Vereine ermöglichen Menschen mit wenig Geld kostenlosen Zugang zu Kunst und Kultur – Ortsbesuch bei „KulturLeben“ Berlin
Die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben gehört zu einem menschenwürdigen Leben. Das hatte das Bundesverfassungsgericht schon 2010 in einem richtungsweisenden Urteil betont. 32 Vereine aus ganz Deutschland haben sich zusammengeschlossen, um dieses Ziel zu verfolgen – und leisten damit eine für viele Menschen lebenswichtige Arbeit.
Wenn Patrick Heymel ins Theater geht, ist das für ihn „wie ein kleiner Urlaub“
, sagt er. Seit einem schweren Unfall vor fünf Jahren sitzt der 44-Jährige im Rollstuhl. Nach seiner Scheidung lebt der gelernte Hotelfachmann allein. Für ihn sei es etwas Besonderes, abends wegzugehen. Er bereite sich darauf vor, überlege, was er anzieht. „Wenn ich ins Theater gehe, fühle ich mich als Teil einer Gemeinschaft. Das tut mir gut“
, sagt er. Für den besonderen Abend bucht er beim Fahrdienst ein Taxi für Rollstuhlfahrer. Sein kleiner Urlaub beginne mit der Taxifahrt. „Dann steigt die Vorfreude.“
An diesem nebligen und nasskalten Abend im November bringt das Taxi ihn in den Berliner Stadtteil Wedding – ins Prime Time Theater. Die schrille Comedy-Reihe „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“
ist ein willkommener Stimmungsaufheller, damit gar nicht erst düstere Herbstlaune aufkommt. Für sein modernes Volkstheater ist das Prime Time über Berlins Grenzen hinaus bekannt.
Heymel ist schon zum vierten Mal zu Gast. Das Theater liegt im Erdgeschoss. Über eine Rampe fährt er mit seinem Rollstuhl problemlos zum Ticketschalter. Dort nennt er der Verkäuferin seinen Namen. Nach einem Blick in die Gästeliste erhält er seine Eintrittskarte. In der ersten Reihe ist für ihn ein Platz reserviert.
Auf der Gästeliste
Heymel ist als Kulturgast beim Verein „KulturLeben Berlin – Schlüssel zur Kultur“ angemeldet. So kann er einmal im Monat kostenlos eine Kulturveranstaltung besuchen. Wenn er über den Verein eine Karte erhält, landet sein Name auf der Gästeliste. „Uns ist wichtig, dass die Kulturgäste sich an der Kasse nicht als Geringverdiener oder Bürgergeldempfänger zu erkennen geben müssen“
, sagt Angela Meyenburg. Sie ist Geschäftsführerin und hat „KulturLeben“ vor 15 Jahren in Berlin gegründet.
Voraussetzung für die Anmeldung bei „KulturLeben“ sei, dass ein bestimmtes Einkommen nicht überschritten wird, erklärt Meyenburg. Für einen Ein-Personen-Haushalt liegt die Grenze bei 1100 Euro, für einen Zwei-Personen-Haushalt bei 1470 Euro. Patrick Heymel erhält nach seinem Unfall eine volle Erwerbsminderungsrente. Ihm stehen etwas mehr als 900 Euro zur Verfügung.
Als Einkommensnachweise akzeptiert der Verein Bescheide über den Erhalt von Bürgergeld oder Grundsicherung im Alter, Rentenbescheide sowie Nachweise über den Erhalt einer vollen Erwerbsminderungsrente oder Wohngeld.
Bei „KulturLeben“ sind knapp 29.000 Berlinerinnen und Berliner als Gast angemeldet. Pro Monat werden rund 4000 Kulturplätze vermittelt. Etwa 500 Kulturpartner spenden regelmäßig Eintrittskarten, darunter sind das Deutsche Theater, die Staatlichen Museen Berlin, aber auch Sportvereine wie Hertha BSC. Insgesamt hat der Verein 121 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon sind die allermeisten ehrenamtlich tätig, einige sind über Programme wie den Bundesfreiwilligendienst beschäftigt. Der Verein hat mehrere Standorte in Berlin. Während der Bürozeiten können Vereinsmitglieder telefonisch Karten reservieren.
Von Theater bis Fußball
Eine der ehrenamtlichen Helferinnen ist Johanna Haupt. Die 72-Jährige ist einmal in der Woche im Büro, beantwortet Anrufe und vermittelt Freikarten. Im Dezember 2016 hatte sie sich bei dem Verein als Kulturgast angemeldet. „Ich war damals in einer Lebenskrise. Ich litt unter schweren Depressionen und ging kaum noch vor die Tür“
, erinnert sie sich. Ihre Tochter habe ihr einen Schubs gegeben. Am Anfang sei sie dennoch kaum zu Veranstaltungen gegangen. „Dann haben mich Mitarbeiter angerufen und Vorschläge gemacht, was mir gefallen könnte. Das hat geholfen“
, sagt sie.
Auf dem Anmeldeformular können Interessenschwerpunkte wie Theater, Museumsführungen, Lesungen oder Konzerte angekreuzt werden. Haupt mag klassische Konzerte. Demnächst geht es aber zur Zaubershow der „Ehrlich Brothers“. „Den Eintritt könnte ich mir von meiner kleinen Altersrente niemals leisten.“
In den Gesprächen am „KulturLeben“-Telefon geht es nicht nur um die Vermittlung von Eintrittskarten, erzählt Haupt. „Gerade mit älteren Frauen komme ich ins Gespräch. Sie sind oft alleine, und da ist es dann wichtig, ein bisschen die Seele zu streicheln.“
Eine Mitarbeiterin des Vereins, die Haupt von Beginn an kennt, sagt, bei ihrer Anmeldung damals sei diese noch sehr schüchtern gewesen. Heute trete sie viel selbstbewusster auf. „Ich glaube, KulturLeben hat mir sehr dabei geholfen, mich so zu entwickeln“
, sagt Haupt.
Angela Meyenburg hatte bei der Vereinsgründung auch Menschen wie Johanna Haupt im Blick. „Wer in einer schwierigen Lebenssituation ist, ist nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Diesen Menschen fehlen oft die Motivation und Kraft, sich aus ihrem psychischen Dilemma aus eigenem Antrieb zu lösen, auch wenn ein grundsätzliches Interesse an kulturellen Angeboten vorhanden ist“
, so Meyenburg. Ausgrenzung und Vereinsamung könnten die Folgen sein. Dem wolle sie mit dem Verein entgegenwirken. Eine Besonderheit ist, dass jeder Kulturgast eine zusätzliche Freikarte für eine Begleitung in Anspruch nehmen kann.
Der Berliner Verein bekommt vom Senat eine finanzielle Unterstützung und wird zudem von Projektpartnern gefördert – zum Beispiel für das inklusive Musikprojekt „Werkstatt Utopia“. Ein weiteres finanzielles Standbein sind die derzeit 152 Fördermitglieder.
Vorreiter Frankfurt
Auch in anderen Teilen Deutschlands gibt es Vereine, die Menschen mit wenig Geld den Zugang zu Kunst und Kultur ermöglichen. In Frankfurt am Main rief der ehemalige Musikproduzent Götz Wörner bereits im Jahr 2008 „Kultur für alle“ ins Leben. Heute erreicht der Verein 50 000 Menschen mit seinem Kulturpass, der Bezieherinnen und Beziehern von Sozialleistungen und Geringverdienern in rund 200 Kulturinstitutionen freien Eintritt ermöglicht.
Ein Jahr später gründete sich in Stuttgart der nächste Verein „Kultur für alle“. Geschäftsführerin Eva Ringer berichtet, dass heute mehr als 73 000 Stuttgarterinnen und Stuttgarter die „Bonuscard plus Kultur“ haben, die Bezieherinnen und Bezieher von Sozialleistungen beantragen können. Im Jahr 2023 war die Zahl der Bonuscard-Nutzungen im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Viertel auf 21 360 gestiegen, trotz fast konstant bleibender Zahl der Inhaber. Die Stadt stellt dem Verein jedes Jahr 32 000 Euro zur Verfügung. Mehr als 100 Partnerinnen und Partner unterstützen „Kultur für alle“ mit Freikarten.
Im Jahr 2017 haben sich 32 Vereine im ganzen Bundesgebiet zur Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe zusammengeschlossen. Das selbst erklärte Ziel ist, Menschen, die wenig Geld haben, eine würdevolle, selbstverantwortliche kulturelle und damit soziale Teilhabe zu ermöglichen. Das klingt vielleicht hochtrabend und etwas abstrakt. Ganz konkret bringt es Patrick Heymel nach der Vorstellung im Berliner Prime Time Theater auf den Punkt: „Das war ein wirklich schöner Abend.“
Kontakt zu den Vereinen
In der Bundesvereinigung Kulturelle Teilhabe haben sich mehr als 30 Vereine zusammengeschlossen. Die Website informiert, wo es die Vereine gibt:
Was fordert der VdK?
Die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben gehört ebenso wie die materiellen Voraussetzungen zu einer menschenwürdigen Existenz. Das hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil im Februar 2010 entschieden.
Lediglich 54,92 Euro sind im aktuellen Regelsatz des Bürgergeldes monatlich für Freizeit, Unterhaltung und Kultur vorgesehen. In Anbetracht der Größe dieses Bedarfsbereichs, zu dem Gebühren für den Sportverein oder die Musikschule sowie Kosten für Instrumente, Bücher und alle Freizeitaktivitäten gehören, ist das nach Auffassung des Sozialverbands VdK zu wenig Geld. Weil zudem für Ausgabeposten wie gesunde Ernährung oder Energie im Regelsatz zu wenig vorgesehen ist, müssen Leistungsempfänger oft bei Kultur und Freizeit sparen. Dadurch ist eine kulturelle Teilhabe nicht möglich.
Der VdK fordert deshalb, dass der Regelsatz überarbeitet und den tatsächlichen Bedarfen entsprechend neu berechnet und angepasst wird.