Kategorie Behinderung im Job Barrierefreiheit Teilhabe

„Ich war schon immer eine Kämpferin“

Von: Jörg Ciszewski

Heike Heubach ist die erste gehörlose Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Der VdK sprach mit ihr über ihren Gerechtigkeitssinn, den Bundestag als Arbeitgeber und über die manchmal respektlose Diskussionskultur im Parlament.

Heike Heubach im Deutschen Bundestag, sie steht am Rednerpult
Heike Heubach hat am 10. Oktober 2024 in Gebärdensprache eine Rede zur Stadtentwicklung gehalten, die von der Universität Tübingen als Rede des Jahres ausgezeichnet wurde. © IMAGO/photothek/Ute Grabowsky

Ich bin erst einmal ein Mensch, dann als Zweites bin ich Abgeordnete, und als Drittes bin ich taub. So wollte ich auch wahrgenommen werden.

Heike Heubach, Bundestagsabgeordnete (SPD)

Sie sind als Industriekauffrau eine politische Quereinsteigerin. Was war für Sie die Motivation, in die Politik zu gehen?

Ich bin im Jahr 2019 gefragt worden, ob ich mir vorstellen kann, für den Rat der Kleinstadt Stadtbergen in Bayern zu kandidieren. Als ich mich damit befasst habe, ist mir bewusst geworden, dass ich wirklich Interesse daran habe, mich in der Politik einzubringen. Ich war schon immer eine Kämpferin und konnte Ungerechtigkeit nie akzeptieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Ja klar. Zum Beispiel als ich meine Ausbildung bei einem Energieversorgungsunternehmen begonnen habe. Ich war an einer Berufsschule für hörende Menschen und hatte Gebärdensprachdolmetschende. Ich fühlte mich damals das erste Mal gleichberechtigt mit Hörenden. Die Frage kam dann auf: Wer übernimmt die Kosten für die Dolmetschung? Welches Amt ist zuständig? Das Inklusionsamt hat gesagt: Nein, wir nicht. 

Dann bin ich zum Arbeitsamt gelaufen. Also wortwörtlich gelaufen, weil ich damals wegen der Gehörlosigkeit nicht einfach anrufen konnte. Dort wurde mir vorgeschlagen, nach Essen zum Berufskolleg für Hörgeschädigte zu wechseln. Ich wollte aber wie alle anderen Auszubildenden bei mir auf der Arbeitsstelle an dieser Berufsschule meinen Unterricht haben. Dann hieß es vom Amt: Wir bezahlen für Sie die Ausbildungsvergütung. Die Kosten für die Gebärdensprachdolmetschung muss aber Ihre Firma bezahlen. Da bin ich ausgerastet. Die Gebärdensprachdolmetschung ist viel teurer als die Ausbildung. Mich so abzuspeisen, ist keine Gleichberechtigung, das ist einfach nicht gerecht. 

Meine Firma hat zum Glück hinter mir gestanden und die Dolmetschung finanziert, damit ich die Ausbildung beginnen kann. Nach der Ausbildung wollte ich jedoch klar geregelt haben, wer diese Kosten übernimmt. Es hat ein Jahr gedauert, bis die Kostenübernahme vom Inklusionsamt bewilligt wurde. Das war ein riesiger Antragswust. Ich habe gelernt: Wer nicht kämpft, bekommt nichts. Ich kenne viele taube Menschen, die gefragt haben, warum bekommst du das? Die Antwort ist, weil ich dafür gekämpft habe. Viele geben aber auf, weil sie diese Kraft nicht haben.

Wie ist es jetzt bei Ihrem neuen Arbeitgeber, dem Bundestag?

Ich bin sehr privilegiert in dieser Position als Abgeordnete. Schon bevor ich in den Bundestag nachgerückt bin, hatte ich viele Gespräche mit der Bundestagsverwaltung darüber, wie ich gleichberechtigt meine Arbeit ausüben kann. Ich brauche hauptsächlich eine Gebärdensprachdolmetschung. Dafür gibt es ein Budget, und ich muss es selbst organisieren. Ich weiß dieses Privileg sehr zu schätzen.

Heike Heubach sitzt auf einer Treppe, lächelt
Heike Heubach stammt gebürtig aus Rottweil am Neckar. Die 45-Jährige hat zwei Töchter. Seit dem 20. März 2024 ist Heubach Mitglied des Deutschen Bundestages. © Stefan Brix

Was hat Sie an der parlamentarischen Arbeit am meisten überrascht?

Das war das Arbeitspensum. Ich wusste vorher, dass es viel ist. Jedoch hat mich die Realität dann wirklich überrascht. Eine weitere Überraschung war, wie die Debatten im Bundestag geführt werden. Es gibt so viele emotionale Zwischenrufe bei den Reden. Das hat mein Bild ins Wanken gebracht. Die Wortwahl ist zum Teil respektlos und persönlich angreifend. Während der Rede wird man permanent unterbrochen: „Stimmt nicht“, „Ist doch Quatsch“, „Du hast keine Ahnung“. Und wenn jemand anfängt, dann ist das wie eine Kettenreaktion, und aus den anderen Parteien reagieren die Abgeordneten auch mit Rufen.

Bisher waren Sie im Ausschuss für Wohnen und Bauen. Könnten Sie sich vorstellen, künftig mehr Behindertenpolitik zu machen?

Ich möchte für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kämpfen und mich auf die Gesetzesanpassungen für mehr Barrierefreiheit konzentrieren. Von der letzten Regierung wurden viele Dinge in die Schublade zurückgelegt. Das Behindertengleichstellungsgesetz und das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz müssen endlich angegangen werden. Noch wichtiger ist, dass die UN-Behindertenrechtskonvention, die von Deutschland 2009 ratifiziert wurde, endlich auch umgesetzt wird. 

Als ich in den Bundestag eingetreten bin, wollte ich nicht in erster Linie als Mensch mit Behinderung wahrgenommen werden, der im Bundestag für die Rechte von Menschen mit Behinderung Politik macht. Ich bin erst einmal ein Mensch, dann als Zweites bin ich Abgeordnete, und als Drittes bin ich taub. So wollte ich auch wahrgenommen werden.

Nach ein paar Monaten ist mir dann durch die Ausschussarbeit und durch die Diskussion mit anderen Abgeordneten klar geworden, dass viel über die Menschen mit Behinderung gesprochen wird. Jedoch fehlt die Perspektive dieser Menschen meistens. Wir Menschen mit einer Behinderung sind die Experten in unserer eigenen Sache. Außerdem fehlt das Mitspracherecht bei vielen Themen, die uns betreffen. Das möchte ich mit meiner politischen Arbeit ändern.    

Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern, damit Deutschland inklusiver wird?

Horst Seehofer hat als bayrischer Ministerpräsident 2013 postuliert, dass Bayern in zehn Jahren barrierefrei sein soll. Wenn man sich heute mal umschaut, dann wird einem sehr schnell klar, dass nach wie vor sehr viele Barrieren vorhanden sind. Es ist einen kleinen Schritt vorangegangen, es gab Veränderungen, aber deutschlandweit muss sich noch ganz viel verändern. 

Wenn zum Beispiel in öffentlichen Gebäuden für Menschen mit Behinderung ein barrierefreier Zugang gewährleistet sein muss, denken alle, das ist doch super, jetzt ist das Gebäude barrierefrei. Aber das ist noch nicht alles. Es muss auch Leichte Sprache vorhanden sein, es muss Gebärdensprachdolmetschende geben oder ein Bildtelefon, an dem man Gebärdensprachdolmetschung anwählen kann. Es müssen Aufzüge vorhanden sein für verschiedene Zielgruppen, für blinde Menschen muss es natürlich ein Blindenleitsystem geben, das sie mit ihrem Langstock nutzen können. Und es muss im Bewusstsein verankert werden, dass auch bei Behörden quasi automatisch eine Gebärdensprachdolmetschung organisiert werden, wenn der Bedarf besteht. An bestimmten Orten ist es zum Teil gegeben, aber eben noch nicht überall. Und andere sind dann noch sehr, sehr weit zurück. Der Zugang muss für alle Menschen gleichwertig gegeben sein.

Stimmt es, dass Menschen, die wenig oder gar nichts hören, oft über visuelle Eindrücke Dinge wahrnehmen, die Hörende nicht bemerken?

Ja, auf jeden Fall. Ich nenne ein Beispiel: Als Robert Habeck im Bundestag sprach, hat sich ein Abgeordneter der AfD sehr aufgeregt. Habecks Wortbeitrag bezog sich als Antwort direkt auf seinen Vorredner von der AfD. Der ist dann, während Habeck noch sprach, aufgestanden und zum Schriftführer gegangen. Normalerweise geht man in einem solchen Fall auf dem Weg zum Protokollanten oder zum Präsidium hinter der sprechenden Person entlang. Aber der AfD-Abgeordnete ist absichtlich vor Habeck entlang gegangen, um ihn zu stören. Und ich habe bemerkt, dass Habecks Verhalten und seine Haltung sich total verändert haben. Er wirkte plötzlich verunsichert. Der AfD-Abgeordnete hat sich dann mit dem Schriftführenden kurz ausgetauscht, und Habeck hat sich irgendwann umgedreht und gefragt: Kann ich weitersprechen? Dann hat er ein „Ja“ zur Antwort bekommen und seine Rede beendet. Aber ich habe deutlich gesehen, dass die Situation sein Verhalten sehr beeinflusst hat. 

Es gibt viele Beispiele dafür, dass ich diese Provokationen und die Reaktionen darauf sehen kann. Gerade die AfD versucht auf diese Weise immer wieder, Einfluss zu nehmen. Ich nehme das sehr stark wahr, wie sich einzelne Abgeordnete verhalten. Ich denke, dass hörende Abgeordneten bestimmte Gesten und Verhaltensweisen oft nicht oder anders wahrnehmen als gehörlose Menschen. Ich denke, andere sehen bestimmte Dinge nicht, weil sie mehr auf das Ohr konzentriert sind und nicht so stark über visuelle Eindrücke ihre Umgebung wahrnehmen wie ich.

Zur Person

Heike Heubach ist im März 2024 als Nachrückerin für die SPDkurz fürSozialdemokratische Partei Deutschlands in den Deutschen Bundestag eingezogen und hat bei der Neuwahl im Februar den Wiedereinzug geschafft. Die 45-Jährige vertritt ihren Wahlkreis Augsburg-Land.

Auch interessant