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Fehler bei der ärztlichen Behandlung: Die Dunkelziffer ist hoch

Von: Christina Liebeck

Jedes Jahr kommt es zu tausenden ärztlichen Behandlungsfehlern, teils mit schwerwiegenden Folgen. Die Dunkelziffer ist hoch. Um die Patientensicherheit zu stärken, wird eine andere Fehlerkultur gefordert – und die Einführung eines Never Event-Registers.

Ein müde wirkender Mann in OP-Kleidung sitzt mit geschlossenen Augen, er greift sich an den Kopf.
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Behandlungsfehler: Weitaus mehr Fälle als gemeldet

Ende August 2024 hat der Medizinische Dienst Bund (MDkurz fürMedizinischer Dienst) seinen Externer Link:Bericht zur Behandlungsfehlerbegutachtung vorgestellt. Insgesamt 12.438 Gutachten hat der MDkurz fürMedizinischer Dienst demnach im Jahr 2023 bundesweit erstellt, um zu klären, ob Behandlungsfehler vorliegen. Bei jedem vierten Gutachten, also bei 3.160 Fällen, wurde ein Fehler mit Schaden bestätigt. Bei jedem fünften Gutachten war der Behandlungsfehler die Ursache für den gesundheitlichen Schaden; das sind 2.679 Fälle, bei denen die betroffenen Patientinnen und Patienten Aussicht auf Schadensersatz haben. In 75 Fällen führten die Fehler laut MDkurz fürMedizinischer Dienst-Gutachten sogar zum Tod.

Von den insgesamt 12.438 begutachteten Fällen bezogen sich zwei Drittel (8.177 Fälle) auf den stationären Bereich und ein Drittel (4.233 Fälle) auf den ambulanten Bereich. Am häufigsten ging es um Fehler bei operativen Eingriffen. 29,5 Prozent der Vorwürfe (3.665 Fälle) betrafen die Orthopädie und Unfallchirurgie; 11,5 Prozent die Innere Medizin und Allgemeinmedizin (1.426 Fälle); 9,3 Prozent die Zahnmedizin (1.156 Fälle); 9 Prozent die Frauenheilkunde und ebenfalls 9 Prozent die Geburtshilfe (1.119 Fälle) sowie die Allgemein- und Viszeralchirurgie (1.118 Fälle). 5,8 Prozent der Vorwürfe bezogen sich auf Ereignisse in der Pflege (726 Fälle). 26 Prozent der Vorwürfe entfielen auf 29 weitere Fachgebiete (3.228 Fälle).

Bei 65,5 Prozent der Betroffenen war der begutachtete Schaden nur vorübergehend und die Gesundheit konnte vollständig wiederhergestellt werden, bei 29,7 Prozent wurde ein dauerhafter Schaden verursacht. Bei 2,8 Prozent führte der Behandlungsfehler zum Tod, das sind die oben erwähnten 75 Patientinnen und Patienten. 

Experten des MDkurz fürMedizinischer Dienst gehen von einer wesentlich höheren Dunkelziffer bei Behandlungsfehlern aus, nämlich von 1 Prozent aller stationären Behandlungen, die fehlerhaft seien. Dann würden die Zahlen so aussehen: Betroffen wären 168.000 Patientinnen und Patienten pro Jahr und die Zahl der Todesfälle, die auf solche Behandlungsfehler zurückzuführen wären, könnte bei 17.000 pro Jahr liegen. Diese fehlerbedingten Todesfälle wären potenziell vermeidbar. 

Forderung: Never-Event-Register einführen

Von den 2023 begutachteten Fällen betrafen 151 sogenannte Never Events“ (in etwa „Niemals-Ereignisse“). Dies sind schwerwiegende Ereignisse, die eigentlich nie passieren dürften und die durch Sicherheitsmaßnahmen vermieden werden könnten. Beispiele sind schwerwiegende Medikationsfehler, bei Operationen im Körper zurückgelassene Fremdkörper wie etwa Tupfer oder chirurgische Instrumente, Verwechslungen von Körperteilen oder Verwechslungen von Patientinnen und Patienten. So wurde laut Bericht von 2023 bei einer Patientin, der lediglich eine Zyste entfernt werden sollte, irrtümlich eine Sterilisation durchgeführt.

Der MDkurz fürMedizinischer Dienst fordert eine Meldepflicht für Never Events, um die Patientensicherheit zu erhöhen und um geeignete Sicherheitsmaßnahmen zur Vemeidung von Fehlern einzuführen. In Deutschland sind Never Events bislang nicht meldepflichtig, wohl aber in anderen Ländern wie etwa den USA oder Großbritannien. Die Forderung des MDkurz fürMedizinischer Dienst: Die Meldung von Never Events durch medizinische und pflegerische Einrichtungen an eine Vertrauensstelle muss in Deutschland anonym, pseudonymisiert und frei von Sanktionen möglich sein. Dazu muss die Politik geeignete Konzepte ausarbeiten und umsetzen.

Aus Fehlern lernen

Im Vordergrund sollte immer die Patientensicherheit stehen. Häufig stehen einer offenen Fehlerkultur und der Anerkennung von Fehlern in der gesundheitlichen Versorgung Bedenken entgegen: 

Das vertrauensvolle Verhältnis von Arzt und Patient könne Schaden erleiden, wenn im Raum stünde, dass Fehler passieren. Dass diese aber faktisch vorkommen, zeigt nicht zuletzt der Externer Link:Bericht zur Behandlungsfehlerbegutachtung des MDkurz fürMedizinischer Dienst.

So argumentiert etwa die Externer Link:Landesärztekammer Hessen gegen eine Meldestelle für Never Events mit der Begründung, dass im Mittelpunkt „nicht die Suche nach Schuldigen, sondern das Lernen aus Fehlern und die Verbesserung der Prozesse” stehen müsse. Der Begriff Never Event sei nicht ausreichend definiert und die haftungsrechtlichen Konsequenzen einer Meldepflicht seien unklar.

Ein grünes Kreuz mit kleinen Figürchen: Eine Arzt-Figur, eine Justitia-Statue, ein Männchen an Krücken und ein Männchen im Rollstuhl.
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Eine anonymisierte und sanktionsfreie Meldestelle, wie sie der MDkurz fürMedizinischer Dienst fordert, würde jedoch gar keine Suche nach Schuldigen ermöglichen, sondern lediglich helfen, Risiken und Fehlerquellen ausfindig zu machen und künftig zu vermeiden. 

VdK-Gesundheitsreferent Ilias Essaida fordert dazu: „Die Fehlerkultur im deutschen Gesundheitssystem muss sich grundlegend ändern. Es ist wichtig, dass wir von den Fehlern, die gemacht wurden, lernen. Um dies zu ermöglichen, ist ein Never-Event-Register ein wichtiges Instrument. Durch die Möglichkeit, anonym und straffrei Fehler zu melden, kann die Sicherheit aller Patientinnen und Patienten langfristig erhöht werden. Ändert man die Fehlerkultur weg von der Suche nach dem Schuldigen hin zu Vermeidung dieser Fehler, verbessert sich die Patientenversorgung und die Behandlungsqualität steigt.” 

Never Event-Liste des APS

Das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) hat eine Never-Event-Liste erstellt und ruft alle Einrichtungen des Gesundheitswesens auf, zu überprüfen, welche Präventionsmaßnahmen in ihren Bereichen dafür existieren. Diese Liste und der Aufruf sind aber lediglich eine Handlungsempfehlung und kein verpflichtendes Instrument: Externer Link:zur APS-Never-Event-Liste

Was können Betroffene bei Behandlungsfehlern tun?

Was können Patientinnen und Patienten tun, wenn sie einen Behandlungsfehler vermuten? Die Betroffenen können sich an ihre Krankenkasse wenden. Diese kann über den Medizinischen Dienst ein Gutachten in Auftrag geben. Wird von den Sachverständigen ein Behandlungsfehler festgestellt, dann wird geprüft, ob der Fehler die Ursache für den erlittenen Schaden war. Nur dann haben die Betroffenen einen Anspruch auf Schadenersatz. Für die Patientinnen und Patienten ist die Begutachtung kostenlos. 

Einem gesundheitlichen Schaden nach einer Behandlung kann auch nach längerer Zeit noch nachgegangen werden. Ab dem Zeitpunkt, ab dem der Schaden dem Patienten oder der Patientin bekannt ist, gilt eine Verjährungsfrist von drei Jahren.

VdK-Gesundheitsreferent Ilias Essaida erklärt: Zunächst ist es gut, dass es eine kostenlose Möglichkeit gibt, sich ein Gutachten einzuholen, um überprüfen zu lassen, ob ein Behandlungsfehler vorliegt oder nicht. Bei einem Verdacht auf einen Behandlungsfehler kann man sich auch an die Externer Link:Gutachterkommissionen für Behandlungsfehler der Landesärztekammern wenden.” 

Das Gutachten dient dann im weiteren Verlauf als Grundlage für die außergerichtliche oder gerichtliche Klärung. Allerdings: Vor Gericht gibt es keine Beweislastumkehr. Das dedeutet, dass die Patientin oder der Patient nachweisen muss, dass es zu einem Behandlungsfehler gekommen ist. Hier würde aus Sicht des VdK eine Beweislastumkehr die Patienten entlasten, indem der behandelnde Arzt beweisen muss, dass er nicht für den Fehler verantwortlich ist. 

Essaida empfiehlt: Patientinnen und Patienten sollten daher frühzeitig ein Gedächtnisprotokoll anfertigen, um so auch noch Monate später genau den Behandlungsverlauf nachvollziehen zu können. Zudem sollten sich Patienten so schnell es geht an ihre Krankenversicherung wenden, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt. Oft ist ein schlechtes Bauchgefühl oder komisches Verhalten des Personals ein erstes Anzeichen darauf, dass etwas schiefgelaufen ist.”

Der VdK-Experte weist darauf hin, dass Patientinnen und Patienten immer Einsicht in ihre Patientenakte verlangen können. Dort müssen alle Behandlungsschritte dokumentiert werden. Den Patienten steht eine Kopie zu.