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Experten erwarten Anstieg bei pflegebedürftigen Menschen mit Migrationshintergrund

Von: Annette Liebmann

Immer mehr ältere Menschen haben einen Migrationshintergrund. Für die Pflege bedeutet das eine besondere Herausforderung: Diese Menschen haben spezielle Bedürfnisse, die berücksichtigt werden müssen.

Eine Gruppe türkischer Frauen in einem Seniorenheim in Oberhausen, NRW. Sie sitzen gemeinsam an einem Tisch. Manche der Frauen tragen ein Kopftuch.
© IMAGO / Funke Foto Services / Ralf Rottmann

Kultursensible Pflege wird immer wichtiger

Nadia Qani hat schon früh erkannt, wie wichtig es ist, dass die Pflege auf die individuellen Wünsche von Menschen eingeht. 1993 gründete sie einen kultursensiblen ambulanten Pflegedienst, der mittlerweile 45 Beschäftigte zählt. Fast alle haben Migrationshintergrund. „Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen aus fünf Kontinenten und sprechen 18 Sprachen“, erzählt die gebürtige Afghanin. Sie betreuen über 60 Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion, darunter drei 24-Stunden-Patienten.

„Es sind viele Kleinigkeiten, die eine kultursensible Pflege ausmachen“, weiß Qani aus Erfahrung. Dazu gehören etwa das Wissen um die jeweilige Religion mit ihren Ritualen und Feiertagen und das Essen. „Je älter Menschen werden, desto eher erreicht man sie über ihre frühen Erfahrungen“, erklärt die Unternehmerin.

Die Körperpflege etwa ist ein wichtiger Bestandteil der Pflege. Je nach Kulturkreis gibt es unterschiedliche Rituale. In islamischen Ländern beispielsweise erfolgt die Grundpflege immer mit fließendem Wasser. Für die Intimpflege wird die linke Hand eingesetzt. Auch nach dem Toilettengang ist es üblich, sich zu waschen. Daher ist es wichtig, dass die Pflegenden mit der jeweiligen Waschkultur vertraut sind.

Herkunft, Muttersprache und Biografie berücksichtigen

Je älter Menschen werden, desto wichtiger wird ihre Muttersprache. Vor allem an Demenz Erkrankte verlieren mit Fortschreiten der Erkrankung ihre Deutschkenntnisse. Nadia Qani hat das bei einem Schützling erlebt: Ein Pflegebedürftiger sprach plötzlich nur noch seine Muttersprache Persisch.

„Bei einer Demenzerkrankung ist die Sprache entscheidend“, bestätigt Prof. Dr. Klaus Müller, Professor für Pädagogische Aufgaben in der Pflege an der Frankfurt University of Applied Science. Er beschäftigt sich mit der diversitätssensiblen Pflege, also der pflegerischen Versorgung von Menschen, bei der nicht nur deren Herkunft, sondern auch deren Biografie und individuellen Bedürfnisse berücksichtigt werden.

„Jeder Mensch braucht eine besondere Pflege“, sagt er, denn hier gehe es um die eigene Identität. „Eine diversitätssensible Pflege führt zu positivem Selbsterleben.“ Insbesondere der Sprache komme eine wichtige Rolle zu: „Da, wo die Muttersprache gesprochen wird, darf man so sein, wie man ist, und muss sich nicht anstrengen.“

Zahl pflegebedürftiger Menschen steigt

Experten erwarten, dass die Zahl pflegebedürftiger Menschen mit Migrationshintergrund in den nächsten Jahren weiter ansteigen wird. Sind es derzeit knapp 400.000, so werden es 2030 bereits fast 500.000 sein, darunter rund 200.000 Demenzkranke. Bisher wurden die meisten in der Familie gepflegt. Doch immer mehr junge Frauen gehen arbeiten – sei es aus Gründen der Selbstverwirklichung oder, weil das Leben mittlerweile teuer ist und das Geld dringend gebraucht wird.

Insbesondere ältere Frauen mit Migrationshintergrund, die zu Hause geblieben sind, um sich um die Kinder zu kümmern, sind mit der deutschen Kultur nur wenig vertraut. Oft sind sie nicht in der Lage, Leistungen zu beantragen, weil sie schlechte Sprach- und Computerkenntnisse haben oder ihre Ansprüche auf Sozialleistungen nicht kennen. Auch diese Menschen benötigen Zugang zum Pflegesystem und auf sie zugeschnittene Angebote.

„Wir brauchen mehr Pflegekräfte mit Migrationshintergrund“, fordert Müller. Außerdem müsse man Fachkräfte schulen und für kulturspezifische Pflege sensibilisieren sowie Experten vernetzen. „Im Grunde genommen geht es hier ebenso um Inklusion wie für Menschen mit Behinderung“, so Müller.