„Als wäre Gewalt gegen Frauen normal“
Der 25. November ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Auch an diesem Tag werden statistisch gesehen wieder 364 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt werden – so wie an allen anderen Tagen im Jahr.
Gewalt beginnt nicht erst bei körperlichen Übergriffen
Am Telefon meldet sich eine Frau. Sie habe sich mit ihrem Kind im Zimmer eingeschlossen, sagt sie. Im Hintergrund ist Geschrei und Gepolter zu hören. Die Frau ist verängstigt und durcheinander. Der, der sie im Hintergrund bedroht, schreit und gegen die Tür hämmert, ist ihr Ehemann.
Solche Anrufe erreichen das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ täglich. „Wir wissen, wie schwer es betroffenen Frauen fällt, nach außen zu treten und sich Hilfe zu holen“
, sagt Petra Söchting, Leiterin des Hilfetelefons. „Wir möchten ihnen diesen Schritt so leicht wie möglich machen. Uns ist bewusst, dass Gewalt nicht erst bei körperlichen Übergriffen beginnt.“
Gewalt gegen Frauen passiert nicht irgendwo. Sie passiert im eigenen Umfeld, wo sich Frauen sicher und geschützt fühlen sollten.
Seit Jahren steigende Fälle häuslicher Gewalt
Jede dritte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Und bei jeder vierten Frau, die solche Gewalt erlebt, ist der Ehemann, der Lebensgefährte oder ein Ex-Partner der Täter.
Wie aus dem „Lagebild Häusliche Gewalt 2023“ des Bundeskriminalamts (BKA) hervorgeht, waren im Jahr 2023 insgesamt 132.966 Frauen von Partnerschaftsgewalt betroffen. Im Vergleich zum Vorjahr war dies ein Anstieg um 6,4 Prozent. „Wir registrieren seit Jahren steigende Zahlen von häuslicher Gewalt. Gleichzeitig werden viele dieser Taten gar nicht angezeigt, sodass die Polizeiliche Kriminalstatistik den tatsächlichen Umfang nur bedingt widerspiegelt“
, ordnet BKA-Vizepräsidentin Martina Link die Zahlen ein. Auch das Hilfetelefon verzeichnete mit 59.048 Beratungen mehr Anrufe als je zuvor.
Die Zahlen zeigen das hohe Risiko von Frauen, zu Hause Opfer von Gewalt zu werden. „Gewalt gegen Frauen passiert nicht irgendwo. Sie passiert im eigenen Umfeld, wo sich Frauen sicher und geschützt fühlen sollten“
, sagt Söchting. Stattdessen werden sie dort beleidigt, bedroht, herabgewürdigt, geschlagen, sexuell bedrängt oder vergewaltigt. 155 Frauen wurden im vergangenen Jahr durch ihren Lebensgefährten, Ehemann oder Ex-Partner getötet.
Tausende Plätze in Frauenhäusern fehlen
Nur 20 Prozent der betroffenen Frauen wagen den Schritt und wenden sich an eine Hilfsorganisation. Rufen sie beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ an, reden die Beraterinnen mit ihnen in den vertraulichen und anonymen Gesprächen auch über Hilfsangebote. Das können etwa Beratungsstellen, Frauenhäuser, die Polizei oder die anonyme Spurensicherung nach einer Gewalttat sein. Die Entscheidung, was oder ob etwas passiert, liegt allein bei den Anruferinnen. „Gewalt ist eine massive Grenzverletzung“
, erklärt Söchting. „Für uns ist es immens wichtig, dass die Frauen selbst entscheiden, wie es weitergeht.“
Viele Frauen stecken dagegen in einem Kreislauf aus Gewalt fest. Manche haben nicht einmal Zugang zu einem Computer oder werden von ihrem Partner permanent kontrolliert, sagt Dorothea Hecht. Sie ist juristische Referentin bei Frauenhauskoordinierung. Sie erklärt, dass niedrigschwellige Hilfsangebote fehlen oder nicht gut erreichbar sind, es an Plätzen in Frauenhäusern mangelt und die Wartezeiten auf Beratungstermine lang sind. „Es fehlt an einem flächendeckenden, barrierefreien und auskömmlich finanzierten Hilfe- und Unterstützungssystem, das den gewaltbetroffenen Frauen und ihren Kindern kostenfrei zur Verfügung steht“
, so Hecht.
Nach der Istanbul-Konvention aus dem Jahr 2011, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, braucht es in Deutschland rund 21.000 Plätze in Frauenhäusern. Es stehen aber nur 7786 Plätze zur Verfügung. Wer im Notfall nicht irgendwo unterkommen kann, bleibt der Gewalt meist weiter ausgesetzt.
Hecht hält Fallkonferenzen für erforderlich, in denen alle Akteure – von der Polizei und den Gerichten über Jobcenter und Jugendämter bis hin zu den Schutzeinrichtungen – zusammenkommen: Dort muss geklärt werden, wie hoch die Gefahr für die betroffene Frau ist und welche Risiken bestehen. „Manche Frauen sind so gefährdet, dass sie keinen Schritt mehr vor die Tür machen können, weil der Mann ihnen auflauert. Und wenn ein Mann sagt, er bringt die Frau um, muss man das ernstnehmen“
, sagt Hecht. Sie fordert, dass vor allem bei Polizei, Justiz und Jugendhilfe in der Aus- und Fortbildung mehr über die Formen und Folgen geschlechtsspezifischer Gewalt aufgeklärt wird.
Gewalt gegen Frauen ist Alltag. Sie ist normal. Sie passiert einfach, als würde sie dazugehören.
Gewalt gegen Frauen ist Alltag
Christina Clemm ist Anwältin und Autorin. Sie hat in ihrer Kanzlei für Straf- und Familienrecht Frauen vertreten, die von Männern bedroht, körperlich und psychisch misshandelt, vergewaltigt oder gestalkt wurden. Auch Angehörige von Frauen, die getötet wurden, saßen ihr in der Kanzlei schon gegenüber. In ihrer Tätigkeit ist sie Frauen aus allen Schichten begegnet – von Geflüchteten mit Kindern bis hin zu Frauen, die erfolgreich in Unternehmen beschäftigt waren.
Die Anwältin ist überzeugt, dass die Gewalt von Männern „aus zutiefst verankerten emotionalen frauenfeindlichen Ressentiments“
resultiert. „Das ist ein strukturelles Problem.“
Frauen würden nicht als gleichberechtigte Menschen wahrgenommen, sondern als dem Mann untergeordnet. Das Problematische daran: Die Gewalt gegen Frauen wird von der Gesellschaft hingenommen. „Sie ist Alltag. Sie ist normal. Sie passiert einfach, als würde sie dazugehören.“
„Täter-Opfer-Umkehr muss endlich aufhören“
Taten, in denen Männer Frauen wegen ihres Geschlechts oder wegen bestimmter Vorstellungen von Weiblichkeit töten, werden Femizide genannt. In den Medien werden sie meist als Familienstreit, Liebes- oder Beziehungsdrama verharmlost. Zudem sei es üblich, Frauen eine Mitschuld zu geben. „Die Täter-Opfer-Umkehr muss endlich aufhören“
, fordert Clemm.
Sie hat die Erfahrung gemacht, dass es vor allem Frauen sind, die sich für Prävention einsetzen, auch in der Politik. Es werde zu wenig getan. In Deutschland haben gewaltbetroffene Frauen nicht einmal einen Rechtsanspruch auf kostenfreien Schutz. Derzeit verhindert die Blockadehaltung der FDPkurz fürFreie Demokratische Partei bei der Reform des Gewalthilfegesetzes jegliche Verbesserungen.
Wer den Verdacht hegt, dass eine Frau Gewalt erfährt, kann sich ebenfalls an das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wenden. Die Beraterinnen wissen, was zu tun ist und wie man Betroffene unterstützen kann. „Es ist vor allem wichtig, den betroffenen Frauen Mut zu machen und ihnen zu versichern, dass die Schuld allein der Täter trägt“
, sagt Söchting.
Der 25. November ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Auch an diesem Tag werden statistisch gesehen wieder 364 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt werden – so wie an allen anderen Tagen im Jahr. Das wird sich nur ändern, wenn die Gesellschaft und die politisch Verantwortlichen Gewalt gegen Frauen ernstnehmen und dafür sorgen, dass diese sich sicher fühlen können.
Hilfsangebote
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist bundesweit an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr kostenfrei erreichbar. Es berät zu allen Formen von Gewalt. Auf Wunsch vermitteln die Beraterinnen an eine Unterstützungseinrichtung vor Ort. Die Beratung erfolgt anonym, vertraulich, barrierefrei und in 18 Sprachen. An das Hilfetelefon können sich bei Fragen auch Angehörige, Bekannte und Fachkräfte wenden.
Telefonnummer: 116 016
Externer Link:www.hilfetelefon.de
Auf der Webseite „frauenhaus-suche.de“ können Betroffene über eine Eingabemaske und eine Karte nach freien Plätzen in Frauenhäusern suchen und erfahren, wie sie Kontakt aufnehmen können.